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Wie Bäcker J. D  sich in Rheine die Pocken holt
 
und Dr. Borggreve das Städtchen Bevergern vor einer Pockenepidemie rettet.

von Franz Winter

Info: Die Pocken oder Blattern waren eine der verheerendsten Seuchen mit oft tödlichem Ausgang. Selbst Goethe hatte einmal die Pocken. Seit 1874 gab es in Deutschland die Impfpflicht. Doch erst als 1967 weltweite Pockenschutzimpfungen einsetzten, konnte die Seuche ausgerottet werden. Seit 1978 ist kein Mensch mehr erkrankt.

Dr. Borggreve, Arzt in Bevergern, hat schon früh die Bedeutung der Schutzimpfung gegen Pocken erkannt, die selbst 1854 bei Ärzten noch umstritten war.
Von diesem Arzt stammt auch die damals sehr bekannte "Bevergern`sche Erde", die zur Blutstillung verwendet wurde. 1975 wurde bei Reparaturen an der Kirchturmkuppel ein Brief des Dr. Borggreve aus dem Jahre 1844  an seinen Nachfolger gefunden.

Aber jetzt zu seiner Leistung, Bevergern vor den Pocken zu retten. Der Text ist aus dem Buch „Notizen für praktische Ärzte über die neuesten Beobachtungen in der Medicin“ unter Mitwirkung von Dr. F. Graevel, zusammengestellt von Dr. S. Strassmann, Achter Band, Berlin 1856, S. 77 ff.
Wer ist der Bäcker J.D. ? Evt. ein Dierkes, z.B. Franciscus Jacobus Dierkes, der am 2.7.1844 Anna Maria Eule heiratet?

77. 2 Die in neuester Zeit selbst von vielen Aerzten bezwei-
felte Identität der Varieln mit Varieleis und die desshalb ge
läugnete Schutzkraft der Vaccine gegen letztere zu beweisen, be-
zweckt eine Mittheilung des Dr. Borggreve in Bevergern. Das
sehr eng gebaute Städtchen Bevergern mit 800 Einwohnern war
bis October des J. 1854 noch frei von Pockenkranken, obgleich der
Verkehr während des Baues der Eisenbahn mit der Stadt Rheine
u. Umgegend, wo die Pocken grassirten, nie häufiger war. Fest
überzeugt von der Schutzkraft der Vaccine hatt B. sich vorge-
nommen, dieses Städtchen gegen eine Pockenepidemie zu schützen,
welche zusehends näher rückte. Es wurden desshalb die Geistlich-
keit, der Amtmann u. mehrere Andere vor dem Ausbruche, der sich
mit Sicherheit entgegensehen liess, revacciniert. Erst am 31. Octgr.
erkrankte der Bäcker J. D. daselbst. Die Krankheitssymptome
waren Kopfschmerz, Uebelkeit, Gliederreissen, Schwindel, Ohrensau-
sen, Hinfälligkeit, Fieber u. s. w.  Pat. war vor einigen Tagen zu
Markte gewesen u. hatte ein Pferd gekauft, bei welcher Gelegenheit
er sich am Unterschenkel wund geritten hatte, der ziemlich entzün-
det war. Ein Brechmittel u. Abführungen stellten ihn bald wieder
her. Am wunden Unterschenkel zeigten sich jedoch während der
Zeit einige pockenartige spitzige Knötchen, sowie auch zwei bis drei
solche an der Nase u. in den Augenbrauen, welche B. für unbe-
deutende Hitzblätterchen hielt. Am 22. Octbr. erkrankte seine Frau
unter denselben Krankheitserscheinungen, jedoch in höherem Grade
u. mit bedeutendem Kopfschmerz, wonach bald die Variola in hohem
Grade zum Vorschein kam. Der ganze Körper ward ihr mit dicken
Pusteln über und über bedeckt, u. an den meisten Stellen waren
es Variolae confluentes. Pat. wurde später wiederhergestellt mit
narbigem Gesichte. Erst jetzt erkannte B. die Krankheit ihres
Mannes, der einige Wochen vorher in Rheine angesteckt ward, als
geringes Varioloid. Die nicht weit von dort wohnende Schwägerin;
Frau K. wartete die Pockenkranke u. wurde bald nach Ausbruch
dieser Variola revaccinirt; die Impfstiche erhoben sich nur zu ganz
kleinen, rothen Knötchen. Das dienende Personal im Hause war
zufällig noch geschützt, wie die vergeblich angestellte Revaccination
nachwies. Frau K. erkrankte plötzlich unter den gewöhnlichen
Krankheitserscheinungen in geringerem Grade, die dem Ausbruche
der Variola vorausgehen. B. suchte Pocken u. konnte nach der
genauesten Visitation nur vier kümmerliche Pockenknötchen finden;
zwei auf dem Vorderarme u. zwei im Gesichte, die ebenso wie
die ganz kümmerlichen Vaccineknötchen bald verschwanden. – Aus
dieser erzählung, wo sich die Ansteckung genau nachweist, geht
hervor, dass das geringste sogenannte Varioloid durch Ansteckung
die stärkste Variola erzeugt, u. diese umgekehrt das kleinste Varioloid.
Der Ansteckungsstoff ist also in Hinsicht der Productionskraft an
sich ein u. derselbe, u. dies Product nur nach dem Grade der Dis-
position des Individuums, oder noch deutlicher nach der Productions-
kraft des im angesteckten Individuum haftenden Bodens verschieden.
Variola und Varioloid ist also An sich Dasselbe, u. nur der Boden
des damit behafteten Individuums ist in der Potenz verschieden. –
Ferner erkrankte daselbst einige Tage später der Schlächter D. an einer
nicht starken Variola. Die Kinder wurden geimpft u. dann die
Frau, bei welcher sich die Vaccine regelmässig, doch nicht stark,
erhob. Nach dem gewöhnlichen erkranken zeigte sich bei ihr bald
die Variola in gelindem Grade, sowie die Vaccine. Die Vaccine-
Pocken vergrösserten ihren Verlauf u. gingen mit der Variola glei-
chen Schritt, u. beide waren von gleicher Intensität. Die Kinder
blieben verschont, selbst der Säugling an der Brust. Frau K. u.
D. waren, da sie vor der Revaccination mit Variolakranken in dem
nächsten Contacte standen, vor der Impfung angesteckt, u. man sieht
bei diesen Fällen; dass die Vaccine ein genauer Variolometer ist,
wonach wir sicher bestimmen können, dass der Vaccinirte, wenn er
angesteckt worden wäre, in dem Grade von der Variola befallen
wäre, als die Vaccine sich präsentiert. – Es wurde nun, wie der
erste Pockenfall eintrat, zu allgemeiner Revaccination geschritten.
Im Einverständnis mit dem thätigen Bürgermeister wurden die polizei-
lichen Maassregeln auf`s Strengste gehandhabt. Warnungstafeln wur-
den an die inficirten Häuser geheftet, u. diese brachten eine solche
Allarmirung hervor, dass bald Jeder wünschte, revaccinirt zu wer-
den. Es wurde zuerst die Schule als Centralträgerin solcher An-
steckungsstoffe im Schulgebäude selbst geimpft. Bei gewiss zwei
Drittheilen der Kinder wurde mit Erfolg geimpft, doch liess sich
die Höhe der Bildung der Vaccine bei der Revision nicht bestim-
men, indem fast allgemein die Pusteln zerkratzt aren. Dabei wur-
den mehrmals in der Woche auf dem Rathause nach öffentlichem
Ausrufe Impftermine angestellt, wo unentgeltlich von Arm zu Arm
geimpft wurde. Auf diese Weise war Jung und Alt im Städtchen
rasch geschützt, u. keine Erkrankung kam wieder vor. Es ist jetzt
schon ein halbes Jahr vorüber, die Epidemie ging an Bevergern
vorbei u. setzte sich in einer von Rheine aus jenseits gelegenen
Nachbargemeinde fort, wo zuerst die ganze Geistlichkeit von den
Pocken befallen wurde. In einer anderen Gemeinde, einem Kirch-
dorfe, impfte B. die Schule, doch die älteren Bauern hielten es für
sich u. die Ihrigen nicht nothwendig. Bald zeigten sich jedoch die
Folgen ihrer Ansicht; es kam ein Pockenfall nach dem anderen
vor. Man kam zur Einsicht, Alles wurde revaccinirt u. die Epide-
mir hörte auf wie abgeschnitten. – Hierbei erwähnt B. zweier
Fälle, wo sich die Vaccine wieder genau als Variolometer zeigte.
Zwei Individuen hatten sich der Ansteckung bei einem in ho-
hem Grade von Variola befallenen Nachbar ausgesetzt. Sie wur-
den bald darauf revaccinirt. Bei dem Einen zeigte sich die Vac-
cine nur als kleine, rothe Knötchen, besonders auf der Kopf-
schwarte vor der Stirne. Bei dem Anderen war die Vaccine in
ihrer ganzen Ueppigkeit hervorgekommen u. ebenso bedeckte auch
am 17. Tage nach der Impfung die erbsengrosse Variola in ihrer
höchsten Blüte den ganzen Körper. Die Vaccine verzögerte auch
hier ihren Verlauf, u. beide Exantheme gingen dann gleichen Schritt,
wobei den Kranken die Vaccine-Pusteln fast mehr belästigten, als
die starke Variola. – das jetzige Varioloid ist also eine Variola
auf nicht vollständig dazu geeignetem Boden, wie wir etwas Aehn-
liches auch schon vor der Entdeckung der Schutzkraft der Vaccine in
der Geschichte der Variola finden. Es existirten Menschen, die
keinen Pockenboden in sich trugen u. das ganze Leben hindurch
von den Blattern verschont blieben, Andere aber, die temporär nicht
empfänglich waren, u. deren Boden sich erst später regenerirte, wie-
der Andere, welche von den Blattern in so geringem Grade befal-
len wurden, dass sie kaum das Bett zu hüten brauchten. Etwas
Aehnliches finden wir noch jetzt; es sind jedoch die Blattern durch-
schnittlich gutartiger u. von geringerer Intensität, weil der durch
die Vaccine entnervte Boden nur theilweise sich wieder regenerirt
hat. Solange der Unglaube an die Schutzkraft der Vaccine gegen
das Varioloid unter dem Publikum u. den Aerzten herrscht, wird
es, nach B., nie gelingen, die Variola in ihren engsten Schranken
zu halten.

 
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